Frankreich braucht Energie vom Atommuffel Deutschland:Jetzt fließt der Strom in die andere Richtung

Erst die AKW abschalten und dann Atomstrom aus Frankreich kaufen - die Regierung Sarkozy warf Deutschland bei der Energiewende Heuchelei vor. Doch wegen der Kälte ist das stolze Atomland Frankreich jetzt ausgerechnet auf Energie vom Aussteiger Deutschland angewiesen.

Michael Kläsgen, Paris

Am Mittwoch war sogar Paris weiß - ein seltenes Schauspiel. Die Kältewelle hatte sich in der Nacht in die Metropole vorgefressen und sie mit Schnee bedeckt. Die Franzosen heizten wie nie. Erstmals in der Geschichte durchbrach der Stromverbrauch die Schallmauer von 100.000 Megawattstunden. Die Atomkraftwerke liefen auf Hochtouren. Und trotzdem reichte der Kraftwerkspark von 58 Reaktoren nicht aus, um den Bedarf zu decken.

Paris snowfall during sub-freezing winter weather

Schnee in Paris auf der Place de la Concorde: Der Atomstaat ist tiefgefroren und im Kälteschock.

(Foto: dpa)

Industrieminister Eric Besson räumte kleinlaut ein, dass das große Atomland Frankreich ausgerechnet vom Ausstiegsland Deutschland Strom importieren musste. Trotz der acht abgeschalteten Anlagen. Die Atommuffel rechts des Rheins lieferten ein Viertel des von Frankreich importierten Stroms - eigentlich kurios. In Bessons Gesicht war daher zu lesen, wie ihn das wurmte. Er hatte die Deutschen wie etliche andere nach der Energiewende der Heuchelei geziehen. Einerseits aussteigen, andererseits von Frankreich durch die Hintertür Atomstrom beziehen. "Das ist doch nicht seriös", mäkelte der Minister.

Jetzt fließt der Strom in die andere Richtung. Und obendrein dürfte es dabei auch um schmutzigen Kohlestrom gehen, auf den Besson regelmäßig mit dem Finger zeigt, wenn er die Weihen des angeblich kohlendioxidfreien Atomstroms preist.

Frankreich hatte in den 70er Jahren ganz bewusst auf die Kernkraft gesetzt, um energiepolitisch unabhängig zu sein und weniger Öl und Gas einführen zu müssen. Heute kommen drei Viertel des Stroms aus Atomanlagen. Doch mit der Unabhängigkeit ist es trotzdem nicht so weit her. In Nizza schwärmt die Polizei aus, um Geschäftsinhaber in der Innenstadt zu bitten, das Licht zu drosseln.

Die Stadt knapst ihrerseits mit der öffentlichen Beleuchtung. An der Uferpromenade der Mittelmeer-Schönheit flackert nur noch ein fades Licht. In der ganzen Region herrscht ebenso wie in der Bretagne oben im Norden Alarmstufe Rot. Hierhin führen nur wenige Hochspannungsleitungen, die schon in den laueren Wintern der vergangenen Jahre immer wieder zusammenbrachen und regionale Blackouts verursachten. Ganze Landstriche saßen dann im Dunkeln und in der Kälte. Der Netzbetreiber RTE verschickt deswegen vorsorglich an die Handybesitzer in den gefährdeten Regionen SMS mit der Bitte, weniger stark zu heizen. Selbst der Kraftwerksbetreiber EdF ruft zum Stromsparen auf: 19 Grad Zimmertemperatur, das müsse reichen.

Doch die guten Ratschläge verpuffen wie heiße Luft vor schlecht isolierten Fenstern. Von Jahr zu Jahr verbrauchen die Franzosen mehr Strom. In gewisser Weise haben sie sogar kaum eine andere Wahl. Denn die Kehrseite des Atomstroms sind die Elektroheizungen.

Laut der Energieagentur Ademe sind ein Drittel aller öffentlichen und privaten Häuser mit Elektroheizungen ausgerüstet. In Neubauten liegt der Anteil noch viel höher. 80 Prozent davon sind laut Ademe mit Radiatoren bestückt. Die sind billig und leicht zu installieren.

Atomkraftwerke sind zu schwerfällig

Gut für die Baufirma. Gut auch für EdF. So bleibt der Kraftwerkspark ausgelastet. Nur: Richtig heizen tun die Radiatoren nicht. Auch speichern können sie die Wärme nicht. Dänemark hat sie wegen ihrer mangelnden Effizienz sogar verboten.

Auf andere, widrige Weise wirken sich diese Heizkörper hingegen weit über die Grenzen Frankreichs aus. Sie sind der Grund dafür, dass sich an den Strombörsen in Europa gegen 19 Uhr die Blicke auf Frankreich richten. Dann kommt die arbeitende Bevölkerung in Frankreich nach Hause, schaltet die Heizung und andere Elektrogeräte ein. Und schon schnellen die Kurven auf den Computern in den Schaltzentralen nach oben. In diesen Tagen, den kältesten in Frankreich seit 1985, ist das besonders deutlich zu beobachten.

Je tiefer die Temperatur, desto steiler der Anstieg der Energiekurve. "Das System aus Atomkraftwerken und Elektroheizungen ist extrem temperaturempfindlich", formuliert ein Experte. Konkret bedeutet das: Sinkt die Temperatur um ein Grad Celsius, wird die Kapazität von zwei weiteren Reaktoren benötigt. Kein anderes Land in Europa muss Kälte so teuer bezahlen wie Frankreich. Alle anderen Länder verlassen sich auf mehrere Energieträger und können notfalls ausweichen. Frankreich hängt am Atomstrom. Das Land bleibt zwar über das Jahr mit seinen 58 Meilern ein Stromexporteur. Wenn es aber eisig wird, sind die Atomkraftwerke zu schwerfällig, um schnell Strom zu liefern und den Bedarf zu decken. Dann muss Frankreich importieren.

Bemerkenswert ist, dass diese Abhängigkeit trotz der weltweit geführten Energiedebatten in den vergangenen Jahren noch größer geworden ist. Binnen zehn Jahren stieg der Verbrauch der Elektro-heizungen in Frankreich um ein Drittel an. Die Haushalte konsumieren inzwischen mehr als die Industrie insgesamt. Während die Fabriken sparten oder die Produktion ins Ausland verlagerten, nahm der Strombedarf der Bürger stark zu.

Weil die Wärme verpufft, heizen sich viele von ihnen arm. Sie zahlen und zahlen, aber warm wird ihnen nicht. Zahlungsunwilligen hat EdF den Strom ganz abgedreht. In den Medien häufen sich nun Geschichten über Menschen, die bei drei Grad in der Wohnung ihr Essen auf Kerzen kochen. Energiepolitische Unabhängigkeit in einem hoch entwickelten Industrieland hatte man sich anders vorgestellt.

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